Putins Politik in der Denkweise des Imperialismus verhindert Russlands zukünftige Entwicklung 

 Ein Kommentar zum russischen Angriff auf die Ukraine. 

Von einer „Zeitenwende“ sprach Bundeskanzler Olaf Scholz am 27.02.2022 in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag, in der sich Deutschland und auch die gesamte internationale Ordnung befindet. Dieser Begriff der Zeitenwende verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Medien, drei Tage nach Beginn des Ukrainekrieges. 

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Die allgemeinen Reaktionen ließen den Anschein erwecken, als wäre unsere westliche Gesellschaft wie durch einen Knall aus dem Tiefschlaf des idealistischen Traumes für ein vernunftorientiertes Russland geweckt worden – geweckt vom Knall der russischen Raketeneinschläge und Panzer. Wie anders sind sonst die überraschten und entsetzten Reaktionen auf den Beginn des Überfalls auf die Ukraine zu erklären? Auch ich habe geträumt: Von der Visafreiheit für junge Russen in der EU und für eine westliche Vernunftspolitik in Wirtschaftsfragen. Doch bei genauerer Betrachtung haben wir gar nicht geträumt, wir haben die Augen verschlossen.

Putins Angriffsbefehl auf die unabhängige Ukraine ist keine Überraschung, die wie ein Knall ein neues Zeitalter einläutet, sondern die logische Konsequenz jahrelanger aggressiver Außenpolitik Russlands. Was mit dem Einmarsch in Tschetschenien begann, den Interventionen in Georgien und Syrien voranschritt und seinen vorläufigen Höhepunkt bei der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim fand, scheint gegenwärtig im als Spezialoperation getarnten Angriffskrieg gegen einen ganzen unabhängigen Staat eine neue Dimension der Missachtung jegliche internationaler Friedensordnung zu erreichen. 

Putin bezeichnete einst den Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Tatsächlich wirkt diese Zäsur der jüngeren Weltgeschichte noch heute im Bewusstsein des russischen Volkes nach. Mit der Unabhängigkeit der zahlreichen Sowjetrepubliken wurde Russland auf die Grenzen zurückgeworfen, die es zur Anfangszeit seiner beginnenden Machtexpansion innehatte. Wenig erstaunlich ist daher, dass sich viele Russen nach den schweren postsowjetischen Zeiten wieder nach einer stärkeren Stellung in der Welt und wirtschaftlicher Stabilität sehnen. Diese Sehnsucht greift der autokratische Präsident seit Jahren mit scharfer außenpolitischer Rhetorik auf, um sein Land nach russischem Selbstverständnis wieder als wichtigsten „Global Player“ neben den USA zu etablieren – wie einst die Sowjetunion in Zeiten des Kalten Krieges. Die Mittel dazu sieht er in den Vorkommen zahlreicher Bodenschätze, die sich auf staatlichem Territorium befinden sowie in den zwei Militärinterventionen in Syrien und Afrika. Außerdem ist Russland nach wie vor im Besitz zerstörerischer Atomwaffen und ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. 

Doch in Wahrheit trägt genau diese verblendete Sehnsucht nach Macht zum weiteren Niedergang dieser geschichtsträchtigen Nation bei. Russland ist zweitgrößter Exporteur von Erdöl und größter Exporteuer von Erdgas, wodurch jährlich Milliarden in die Staatskassen gelangen. Allerdings hat diese dominante Stellung im fossilen Rohstoffmarkt auch eine Kehrseite: Das Land ist in großem Maße von den internationalen Rohstoffpreisen abhängig und ist somit den Schwankungen des Weltmarktes ausgesetzt. Statt notwendiger Investitionen im erneuerbaren Energiesektor setzt Putins Wirtschaftslogik weiterhin auf fossile Rohstoffe als Hauptträger. Wirtschaftlich gesehen ist das größte Land der Erde mit einer Bevölkerungsanzahl von 145 Mio. Einwohnern ein bescheidener Akteur auf der internationalen politischen Bühne. Die in beiden Aspekten um ein vielfaches kleineren Beneluxstaaten können problemlos mit dem riesigen Russland mithalten und weisen kumuliert ungefähr das gleiche Bruttoinlandsprodukt auf. 

Innenpolitisch dürstet das Land ebenfalls nach Reformen. Diese sind im Hintergrund des demographischen Niedergangs, abgesehen vom defizitären scheindemokratischen Politiksystem, ohnehin bitter nötig. Vor allem junge, gebildete Russen scheinen unserem westlichen Demokratiemodell nacheifern zu wollen. 

Diesen Eifer wollten wir als westliche Wertegemeinschaft belohnen, weshalb es bereits Debatten um eine mögliche EU-Visafreiheit für Russen unter 25 Jahre gegeben hatte. Doch auch in diesen innenpolitischen Fragen hat Putins Angriffskrieg jegliche Weichenstellungen auf Modernisierung auf Jahrzehnte verhindert. Stattdessen zerschnitt er das Band internationaler Diplomatie endgültig, in dem er dem souveränen Staat Ukraine sein Existenzrecht und den Ukrainern ihre Ethnizität absprach.

Putins Außenpolitik mit dem Ziel der Wiederherstellung alter, längst vergangener Grenzen mithilfe der Anwendung von militärischer Gewalt ist noch im Imperialismus des 19. Jh. zu verorten und wirkt in modernen Zeiten von geopolitischer Rationalität geradezu paradox und grotesk. Welch Arroganz ermöglicht solches Handeln? 

Während russische Soldaten politische Sinnlosigkeit mit Gewalt durchsetzen sollen, fliehen gleichzeitig Zehntausende IT-Spezialisten, Kulturschaffende und demokratisch eingestellte Menschen aus einem Land, von dem sie sich offensichtlich keine Zukunft mehr versprechen. Einen vergleichsweise so großen „Braindrain“ gab es in Russland zuletzt nach dem ersten Weltkrieg im Zuge der Gründung der Sowjetunion, dabei ist der Krieg noch nicht einmal vorbei und die Folgen nur in groben Zügen absehbar. 

Wir sind erst am Beginn des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Ein Jahrhundert, welches immense Herausforderungen bereithält, gleichzeitig jedoch auch Hoffnung; ein Jahrhundert, in dem wir auf den Mars fliegen werden und technische Innovationen in noch nie dagewesenem Ausmaß erleben dürfen.

Während also die Welt die Mobilitäts- und Energiewende vor dem Hintergrund des Klimawandels angeht, müssen wir erfahren, wie der Imperialismus des Wladimir Putin in seiner scheinbar unstillbaren Gier nach der Wiederherstellung des zaristischen Imperiums das russische Volk auf Jahrzehnte in der Entwicklung zurückwirft. Zurück in die Zukunft.