Bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie in Deutschland das Durchschnittseinkommen erreichen, braucht es laut einer 2018 durchgeführten OECD-Studie im Schnitt sechs Generationen. Diese Zahl ist alarmierend und beschämend, denn andere Länder wie Dänemark schaffen den Aufstieg zum Durchschnittseinkommen gemäß der OECD-Studie schon in durchschnittlich zwei Generationen.



Die Frage ist also: Wie schaffen wir es, mehr Kindern aus sozial schwachen Verhältnissen die Chance auf einen höheren Bildungsabschluss und somit zum sozialen Aufstieg zu geben? Sind Talentschulen, wie sie derzeit schon in NRW erprobt werden, eine mögliche Lösung? Und sind Gemeinschaftsschulen für den sozialen Aufstieg förderlich oder nicht? Oder sind starke Förderungsmechanismen ohnehin wirkungsarm, da das Potenzial schon durch die Gene bestimmt wird?

Was braucht es für Lebenserfolg?

Bevor man genau überlegt, welche Maßnahmen man am besten ergreifen sollte, sollte man zunächst erörtern, was denn überhaupt die ausschlaggebenden Faktoren für das Erreichen höherer Bildungsabschlüsse und den akademischen und beruflichen Erfolg im Leben sind. Die Psychologie liefert hier mehrere Faktoren, die als gute Prädiktoren für individuellen Lebenserfolg gelten. Ein Faktor, der den Lebenserfolg gut voraussagen kann, ist der Intelligenzquotient eines Menschen, also die kognitive Leistungsfähigkeit. Doch auch die Persönlichkeit spielt eine Rolle: Nach dem Big Five Modell der Persönlichkeitspsychologie lässt sich die Persönlichkeit eines Menschen mit den fünf Eigenschaften „Extraversion“, „Gewissenhaftigkeit“, „Verträglichkeit“, „Offenheit“ und „Neurotizismus“ beschreiben. Von diesen fünf Eigenschaften ist es der Wert der Gewissenhaftigkeit, der am stärksten mit dem Lebenserfolg eines Menschen in Zusammenhang steht.

Schon bei Kindern sieht man hier Unterschiede, die zum Beispiel im berühmten Marshmallow-Experiment zutage treten: Hierbei können Kinder entweder sofort ein Marshmallow erhalten, oder sie warten eine Zeit lang und werden dann mit zwei Marshmallows belohnt. Die gewissenhafteren Kinder verzichten hierbei auf die schnellere Belohnung zugunsten der späteren, während weniger gewissenhafte Kinder lieber sofort den einen verfügbaren Marshmallow essen, anstatt später zwei zu erhalten.

Neben Intelligenz und Gewissenhaftigkeit spielen auch andere Faktoren wie die Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit einer Person, sowie die sozialen und kommunikativen Kompetenzen eine Rolle.

Diese Merkmale sind alle in unterschiedlichen Ausprägungen erblich bzw. elementar durch die Umwelt bedingt.  Die Gene geben dabei jedem Menschen einen Rahmen mit, während die Umwelt entscheidet, wo in diesem Rahmen das Potenzial schlussendlich landet. Dabei sind Intelligenz und Gewissenhaftigkeit Eigenschaften, die eine Heritabilität von ca. 0.5 aufweisen. Das bedeutet, dass man von allen Intelligenz- und Gewissenhaftigkeitsunterschieden, die man zwischen Individuen findet, ca. die Hälfte durch die unterschiedliche genetische Ausstattung erklären kann. Das heißt aber auch, dass die Umwelt immer noch einen großen Einfluss auf das schlussendliche Intelligenzniveau hat.

Wie erreichen Kinder ihr maximales Potential?

Zu den nicht-erblichen Faktoren, die über die schlussendliche Intelligenz eines Kindes entscheiden, gehört vor allem die Interaktion mit dem Kind in den ersten Jahren. Wichtig ist also, dass Kinder schon in frühen Jahren altersgemäß gefördert werden. Dabei ist aber nicht nur die Förderung der kognitiven Fähigkeiten der Kinder entscheidend, sondern auch das emotionale Eingehen auf die Bedürfnisse der Kinder.

Zu den Faktoren, die dem Erreichen einer höheren Intelligenz im Weg stehen, gehören Faktoren wie ein eine negative Mutter-Kind-Interaktion, hohe Ängstlichkeit der Mutter und eine hohe Anzahl an belastenden Stresserlebnissen.

Oft ist es jedoch so, dass gerade Kinder aus sozial schwachen Familien mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit den rechten Rand ihres mitgegebenen Intelligenzrahmens erreichen und somit weniger oft ihr volles Potential ausschöpfen.

Denn während vor allem gebildete Eltern ihre Kinder mit allen Mitteln fördern, haben weniger gebildete Eltern oftmals nicht die Möglichkeiten oder Mittel dafür.

Wie kann also der Staat oder die Gesellschaft diesen Kindern helfen, ihr volles Potential auszuschöpfen?

Ein Blick in die USA

In den USA versucht man schon lange, durch individuelle Förderprogramme Kinder aus sozial schwachen Familien zu unterstützen. Schon 1965 führte der damals amtierende US- Präsident Lyndon B. Johnson im Zuge der Great Society- Reform sogenannte Head-Start-Programme ein, die diese Kinder entsprechend individuell fördern sollen und bis heute bestehen.

Doch der Erfolg dieser Head-Start-Programme ist nicht unumstritten. Die meisten Studien kommen zu dem Ergebnis, dass diese Programme nur einen kleinen und kurzfristigen Effekt auf die Intelligenz haben. Dafür gibt es allerdings positive Effekte auf Faktoren wie die soziale Kompetenz und die Gesundheit, die für den Lebenserfolg und die Lebenszufriedenheit auch keine zu vernachlässigende Rolle spielen. Zudem erreichen Kinder, die ein Head-Start-Programm durchlaufen, öfters einen Schulabschluss.

Wenn man allerdings einen längerfristigen Effekt auf die Intelligenz erreichen möchte, muss man vermutlich schon früher mit der Förderung beginnen, wie ein weiteres Projekt aus den USA zeigt: 1973 wurde dort das sogenannte „Abecedarian – Intervention – Project“ durchgeführt, das im Unterschied zu den Head Starter – Programmen Kinder nun schon ab dem frühen Säuglingsalter individuell stark förderte. Die hierbei gefundenen Effekte auf die Intelligenz zeigten sich noch im 21. Lebensjahr und waren damit um einiges langanhaltender als die bei den Head Start – Programmen gefundenen Effekte.

Um also die beste Potenzialausschöpfung zu erzielen, sollte dieses schon früh vor dem eigentlichen Eintritt in den Kindergarten gefördert werden. In Deutschland wird frühe Förderung und Interaktion mit Kindern z. B. durch die weitverbreiteten Krabbelgruppen bereitgestellt. Das Problem bei solchen Angeboten ist allerdings, dass diese hauptsächlich von sowieso schon gut situierten, aus dem deutschen Kulturkreis stammenden Eltern genutzt werden. So nutzen 53,5% der deutschen Eltern die Krabbelgruppe, während es zum Beispiel bei türkischen Eltern nur 6,2% sind. Man sollte sich also darauf konzentrieren, diese Angebote verstärkt auch sozial schwachen Familien aus anderen Kulturkreisen näherzubringen.

Gewissenhaftigkeit und Erziehungsmethoden

Intelligenz ist zwar die notwendige Ressource, doch die Werkzeuge, die es braucht, um aus dieser etwas zu schneidern, sind andere: Selbstkontrolle, Zielstrebigkeit und Durchhaltevermögen – und damit Faktoren, die vor allem durch die Gewissenhaftigkeit einer Person bestimmt werden.   Auch hier bekommt jedes Kind einen genetischen Rahmen mit, doch kann man trotzdem durch Erziehung das Beste rausholen. So zeigen Studien einen Zusammenhang zwischen einem anleitenden Erziehungsstil und der Gewissenhaftigkeit des Kindes. Ein passiver Erziehungsstil steht hingegen in Zusammenhang mit niedrigeren Gewissenhaftigkeitswerten.

Um Kindern die besten Chancen mitzugeben, ist es also wichtig, dass man ihnen klare Regeln aufzeigt und ausreichend Struktur bietet. Ein passiver Erziehungsstil, bei dem Kinder keine Anleitung für ihr Handeln erfahren, ist hingegen für den Erfolg eines Kindes weniger förderlich.

Gemeinschaftsschulen – (k)eine Lösung?  

Auch das intelligenteste Kind kommt nicht weit im Leben, wenn ihm gute Bildung verwehrt wird. Gerade Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen schaffen es seltener aufs Gymnasium, weshalb man als Konsequenz in einigen Bundesländern Gemeinschaftsschulen eingeführt hat. So hofft man, dass das längere gemeinsame Lernen mit leistungsstarken Schülern Vorteile für leitungsschwache Schüler bringt und damit das soziale Ungleichgewicht reduziert wird.

Doch damit der Unterricht in so einer heterogenen Gruppe funktioniert, ohne dass die leistungsstarken Kinder über– und die leistungsschwachen Kinder unterfordert sind, wird in Gemeinschaftsschulen oft auf Frontalunterricht verzichtet und auf selbstständiges Lernen gesetzt. Und genau das scheint ein Problem zu sein: So gibt es Hinweise, dass sich der fehlende Frontalunterricht vor allem bei leistungsschwächeren Schülern negativ auf die Lernleistung auswirkt. Insbesondere brauchen leistungsschwächere Schüler wohl geführten Unterricht und sind oftmals mit offenen Unterrichtsmethoden überfordert.

Eine Vergemeinschaftung der Schulen ist also insgesamt kritisch zu betrachten. Stattdessen scheint eine diverse Schullandschaft speziell für leistungsschwächere Schüler förderlich zu sein, da diese so auf ihr Lerntempo abgestimmten Frontalunterricht erhalten können.

Was ist also zu tun?

Die besten Chancen auf akademischen und beruflichen Erfolg haben Kinder, die eine hohe Intelligenz und eine hohe Gewissenhaftigkeit aufweisen. Da diese Merkmale beide zum Teil genetisch bedingt sind, wird man nie allen Kindern die gleichen Chancen auf Erfolg mitgeben können. Dennoch kann man die Chance auf sozialen Aufstieg um einiges erhöhen, indem man die Umweltbedingungen optimiert.

Für eine hohe Gewissenhaftigkeit ist neben der Genetik vor allem der Erziehungsstil verantwortlich. Hierbei ist ein passiver Erziehungsstil wohl eher wenig förderlich – stattdessen ist es wichtig, dass Kinder durch Regeln und Grenzen angeleitet werden.

Eine Vergemeinschaftung von Schulen und neue Unterrichtskonzepte wie freies Lernen sollte man überdenken, denn es besteht die Gefahr, dass vor allem leistungsschwache Kinder hier zu wenig Anleitung und Struktur erfahren.

Um Kindern diese nötige Struktur zu geben, können auch Talentschulen förderlich sein. So bieten sie Kindern durch die zusätzliche Ressourcen einen festen sozialen Rahmen und eine feste Lernumgebung, was positive Auswirkung auf ihre Gewissenhaftigkeit sowie ihre körperliche und psychische Gesundheit hat. Die Intelligenz eines Kindes werden sie jedoch kaum mehr beeinflussen können, denn wie die Ergebnisse der Förderprogramme aus den USA zeigen, scheinen hier vor allem die ersten Lebensjahre entscheidend zu sein. Um also große Effekte mit Talentschulen zu erzielen, ist es nötig, diese Konzepte auf die frühkindliche Bildung auszuweiten. So könnte man beispielsweise für sozial schwache Familien pädagogisches Begleitpersonal bereitstellen, die diese bei der frühkindlichen Erziehung und Förderung unterstützen. Dabei müssen Eltern solche Hilfsangebote selbstverständlich auch annehmen wollen, weshalb es wichtig ist, mehr Aufklärungsarbeit über den Einfluss von frühkindlicher Förderung auf den späteren Lebenserfolg zu betreiben.