Eine Erschütterung für diejenigen, die ihre Meinung frei äußern. Der brutale Mord am Lehrer Samuel Paty im vergangenen Jahr wird zum Mahnmal gegen das Verstummen demokratischer Werte. Ein Beitrag gegen das Schweigen.


Als der Geschichtslehrer Samuel Paty heute vor acht Monaten mit seiner Klasse Karikaturen des islamischen Propheten diskutierte, überraschte die Reaktion. Eltern beschwerten sich, in den sozialen Medien kam es zu Anfeindungen und man forderte die Entlassung des eigentlich beliebten Lehrers. Dies verwunderte vor Allem, weil Paty solche Karikaturen seit Jahren zum Thema Meinungsfreiheit besprach ­– ganz ohne Aufschrei. Dieses Mal aber kam alles anders. Wochen später wurde Paty vor seiner Schule enthauptet. Ein islamistischer Anschlag mit Symbolcharakter, an den sich schon heute nur noch Wenige erinnern.

Die Atmosphäre kocht hoch

Was in terroristischen Anschlägen gipfelt, kocht in der gesellschaftlichen Debatte seit Jahren hoch. Auch in Deutschland benötigen Islamkritiker wie Hamed-Abdel Samad und andere polarisierende Persönlichkeiten dauerhaften Polizeischutz. Denn der Ton wird rauer, der Diskussionspartner zum persönlichen Feind und der Brandbeschleuniger der Social-Media Algorithmen tut sein Übriges. Ein idealer Nährboden für Verschwörungstheorien und Radikalisierung. Auch der Mörder von Samuel Paty erfuhr wohl auf Facebook vom Unterrichtsinhalt des Lehrers, dort natürlich mit entsprechender Wertung eines wütenden Vaters. Dieser versuchte im Vorfeld sich mit gleichgesinnten Eltern zusammenzutun und rief unmissverständlich dazu auf „den Gauner“ Paty zu stoppen und abzustrafen. Paty bekam Drohanrufe und änderte zuletzt aus Angst vor Übergriffen sogar seinen Weg zur Schule. 

Kritik ist nicht das Problem

Dabei liegt das Problem selbst, nicht in der Kritik an Karikaturen, sondern vielmehr in der Art der Auseinandersetzung. Immer wieder treten bestimmte Minderheiten aus dem Untergrund hervor und versuchen mittels Gewalt die Grenze des Sagbaren zu verschieben, um so die Deutungshoheit über die Debatte zu gewinnen. Hierbei mündet die psychische Gewalt in den sozialen Medien allzu häufig in physische Übergriffe von angeheizten Einzeltätern. Auch in der Pandemie kam es zu Morddrohungen an anerkannte Wissenschaftler und Politiker. Vorbote dafür waren regelmäßige Shitstorms. Beispielhaft sei hier an „#SterbenMitStreeck“ oder an die Ahnenforschung zu seiner Person erinnert. Ein tatsächlicher Übergriff auf Virologen fand aber dankenswerterweise nicht statt. Trotz extremer Polarisierung scheinen hier jene Hemmschwellen noch zu stehen, die bei hochsensiblen Themen wie dem politisierten Islam längst gefallen sind. Das partielle Ziel der „Meinungsunfreiheit“, wie FDP-Politiker Wolfgang Kubicki es in seinem Buch beschreibt, wird mit unterschiedlicher Intensität verfolgt und mittlerweile von diversen politischen Lagern getragen. Das ist gefährlich, denn das bezweckte Schweigen der Mehrheit verzerrt die öffentliche Wahrnehmung und kommunizierte Thesen werden extremer. 

Auch deshalb ist der gesellschaftliche Diskurs extrem wichtig, die freie Äußerung von Meinungen schlechthin konstituierend für unsere Demokratie. Doch wer eine zur populären Mehr- oder Minderheitsmeinung konträre Auffassung vertritt, hat vielfach nicht nur mit sachlicher, sondern auch mit persönlicher Auseinandersetzung zu rechnen. Die Daumenschrauben korrekter Sprache und akzeptabler Äußerungen werden scheinbar Jahr für Jahr angezogen. Dementsprechend nachdenklich stimmen auch die Erkenntnisse des Allensbacher Instituts für Demoskopie wonach 71 Prozent der Deutschen Vorbehalte haben ihre Meinung frei zu äußern. Die Folge sind mitunter diskursfeindliche Einigkeitsrhetoriken und eine Gefährdung der gelebten Meinungsfreiheit. 

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Meinungsfreiheit und Lehre – Ein schmaler Grad

Von dieser Entwicklung ist auch die Studierendenschaft deutscher Universitäten nicht gefeit. Vielmehr gilt sie als Brennpunkt, in welchem sich entsprechende Entwicklungen besonders schnell abzeichnen. Verschiedenste Meinungen sind hier besonders stark vertreten und stehen sich gegenüber. Beides grundsätzlich wertvolle Eigenschaften, die sich im Einzelfall jedoch auch problematisch auswirken können. So kam es in der Vergangenheit im studentischen Umfeld wiederholt zu Säureangriffen, Gewalttaten und zur Verhinderung von Veranstaltungen. Rassistische und sozialistische Schmierereien scheinen kaum noch erwähnenswert, liegen sie doch praktisch an der Tagesordnung. Hierbei erweisen sich solch Geschehnisse meist als Folge des politischen Diskurses innerhalb der Hochschule. Dementsprechend häufen sich die Forderungen danach die deutschen Hochschulen zu „Safe Spaces“, also zu Schutzräumen für tatsächlich oder mutmaßlich marginalisierte Gruppen, zu erklären. Einen solchen Ausschluss des politischen Geschehens aus dem Hochschulbetrieb darf es jedoch gerade im Sinne der Meinungsfreiheit nicht geben, denn: Demokratie lebt von Toleranz des Anderen! Dementsprechend sollten Hochschulen ihren Studenten den Raum geben, sich zu freien und mündigen Bürgern zu entwickeln. Politischer Diskurs und gerade der Umgang mit unliebsamen Meinungen will geübt sein. Das Etablieren und Erhalten einer offenen Diskussionskultur an unseren Universitäten ist daher der dauernde Auftrag aller Beteiligten. Letztlich können entsprechende Erfolge auch gesamtgesellschaftlich als Vorbild dienen. 

Schweigen ist keine Option

Anschläge wie jener auf Samuel Paty machen uns vor allem eines klar: Unsere offen-säkurale Gesellschaftsordnung ist nicht selbstverständlich. Gemäß Böckenförde-Diktums lebt die Demokratie von Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten kann und muss daher jeden Tag aufs Neue verteidigt werden. Unsere Verfassung gibt uns mit der Gewährleistung der Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG den bestmöglichen Schutz und kann dennoch nicht garantieren, dass sie von der Bevölkerung wirklich gelebt wird. Doch gerade auch Letzteres ist unabdingbar, um Radikalisierung und Falschinformationen in unserer Gesellschaft Einhalt zu gebieten. Der Ideenwettbewerb versagt, wenn wir die Unterdrückung unliebsamer Meinungen zulassen. 

Mit der gelebten Meinungsfreiheit ist es also eine ganz schön komplizierte Angelegenheit. Die Äußerung unterschiedlicher Meinungen ist wünschenswert, aber persönliche Anfeindungen und Straftaten dürfen nicht toleriert werden. Auch der universitäre Diskurs schlägt regelmäßig über die Stränge, aber die Unterdrückung bestimmter Meinungen in Form von „Safe Spaces“ ist der falsche Weg. Der tragische Tod Samuel Patys steht stellvertretend für eine existenzielle Bedrängnis derer, die ihr demokratisches Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen. Und mit jedem Mal, in dem wir unsere Meinung aufgrund drohender Gewalt unterdrücken, stirbt unsere Freiheit ein bisschen mehr.

Es ist daher die Aufgabe aller Demokraten sich schützend vor das sensible und komplizierte Gut unserer Meinungsfreiheit zu stellen. Denn:

„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“

Benjamin Franklin