Eine alte Bekannte meldet sich zu Wort und berichtet. Im Kleid der Ironie regt dieser Text zum Nachdenken über Demokratiegeschichte, Tyrannei und Hoffnung an.


Wie oft ich bereits in Ketten gelegt wurde? Wie oft man schon versucht hat, mich kleinzuhalten? Ach, du liebe Zeit! Wo soll ich denn da bloß anfangen… Auch wenn ich wirklich ein sehr, sehr gutes Gedächtnis besitze: so oft wurde bereits versucht, mir Grenzen aufzuerlegen, dass es meine Gedächtniskapazität sprengte, versuchte ich, mich an jedes einzelne Mal zu erinnern. Schon allein beim Gedanken daran wird mir schwindlig. Es gab nämlich wirklich sehr, sehr selten eine Zeit, in der ich mich ungestört ausleben und ausbreiten konnte. In der ich das machen konnte, worauf ich wirklich Lust hatte. Immer wollte mir irgendjemand ans Leder!

Seien es grausame Tyrannen, die gemeint hatten, eine Gesellschaft könnte so gut wie komplett ohne mich auskommen oder Ungerechtigkeiten, die festgelegt hatten, dass ich nur in bestimmten Teilen der Gesellschaft existieren dürfte – in der Geschichte der Menschheit hat man bereits unzählige Male versucht, mich zu unterdrücken oder mich sogar gänzlich wegzusperren. Nun, was soll ich sagen? Die meisten dieser Diktaturen gibt es nicht mehr und die allermeisten diktatorischen Herrscher liegen sechs Fuß tief unter der Erde. Darüber hinaus wurden bereits die meisten gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten abgeschafft, da der jeweils ungerecht behandelten Menschengruppen dagegen aufbegehrten. Na, meine Lieben, was lernen wir daraus? Meine Ansicht ist die folgende: Ihr könnt gerne versuchen, mich einzuschränken. Ihr könnt gerne versuchen, mich zu ignorieren. Ihr könnt gerne versuchen, ohne mich auszukommen. Doch irgendwann werden die Menschen rebellieren und sich mich zurückholen – und wenn es einige von ihnen sogar das eigene Leben kosten möge. Denn ich bin für den Menschen so notwendig wie Wasser für eine Pflanze, wie Sauerstoff zum Atmen, wie eine Mutter für ihr Kind – ich bin ihnen unverzichtbar.

Nicht, dass es nicht bereits viele Menschen gegeben hätte, die viel für mich getan und mich wieder zu neuem Leben erweckt hätten! Das will ich selbstverständlich nicht abstreiten. Man möge einen Blick in die Geschichtsbücher werfen und sich anschauen, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Menschen in Frankreich und in der Neuen Welt für mich gekämpft und mich zum Fundament ihrer Zivilisation gemacht haben. Wie vorbildlich! Auch heute erröte ich noch und bekomme Gänsehaut, wenn ich an diese glorreiche Zeit zurückdenke. Aber alles in Allem würde ich trotzdem behaupten, dass man öfter versucht hat, mich in Ketten zu legen, als diese zu sprengen.

Und wie sieht es heute so aus? Wie sehr wird heute für mich gekämpft? Nun ja, ich würde mal sagen: Prädikat „geht so“. Da geht definitiv noch mehr! Wenn ich mal so einen Blick auf die Weltkarte werfe, würde ich sagen, die Lage für mich ist wirklich sehr ausbaufähig. Zwar gibt es viele Länder, in denen ich mich relativ ungestört ausbreiten und es mir bequem machen kann, ohne befürchten zu müssen, dass irgendjemand mir auf die Pelle rückt. Allerdings gibt es auch ein paar Länder, in denen ich es eher schwer habe: So beispielsweise in den arabischen Ländern, in Russland, in Afrika, im Osten Europas, in Südamerika – nur um ein paar zu nennen. Das stimmt mich ehrlich gesagt ziemlich traurig, dass man mich nicht überall willkommen heißt und es wäre mein großer Traum, dass dies der Fall wäre.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und selbstverständlich sehe ich mich seit mehreren Monaten auch in den freieren Gefilden dieser Erde eingeschränkt: Menschen dürfen nicht überall sein, wo sie möchten, sie dürfen nicht gemeinsam versammelt sein, wie sie möchten – und für eine gewisse Zeit durften sie sogar nicht ihre Behausungen verlassen. Natürlich weiß ich, dass es für einen guten Zweck ist. Natürlich weiß ich, dass es notwendig ist. Natürlich weiß ich, dass dadurch Menschenleben gerettet werden. Aber trotzdem tut es mir weh, dass mich die Menschen seit einer Weile nur in ziemlich eingeschränkter Form wahrnehmen können und dass ich mich so einschränken muss. Schockschwerenot, welch ein Jammer! Was aber, nichtsdestotrotz, schön zu sehen ist, ist, dass gerade dann, wenn ich so sehr eingeschränkt werde, den Menschen bewusst wird, wie selbstverständlich ich mittlerweile für sie geworden bin und wie es ist, wenn ich nicht so präsent bin wie sonst. Ich denke, wenn das Ganze erst einmal vorbei ist, werden mich die Menschen wieder sehr zu schätzen wissen – in einem Ausmaß, wie sie es vorher lange nicht getan haben. Tja, da seht ihr mal, wie wichtig ich doch bin! Das kommt eben davon, wenn man mich unterschätzt und wegrationalisiert!

Natürlich hat sich bereits einiges getan, um mir zu Respekt, Anerkennung und zu Wachstum zu verhelfen. Aber es bleibt noch einiges zu tun. Denn der Kampf um mich ist niemals zu Ende gekämpft!

Wer ich bin? Man kennt mich in beinahe jedem Land und in beinahe jeder Sprache dieser Erde. Ich bin den Menschen bereits in mannigfaltiger Form begegnet – und auch nicht begegnet. Mesdames et Messieurs, wenn ich mich Ihnen hiermit offiziell vorstellen darf: Ich bin die Freiheit!

Bild von F. Muhammad auf Pixabay