Im Juni 2022 jährte sich der gewaltsame Tod des früheren deutschen Außenministers Walther Rathenau zum 100. Mal. Ein Blick auf sein politisches Verständnis zeigt: Wir können heute noch von ihm lernen.

Walther Rathenau, geboren 1867 in Berlin, zählte zu den herausragenden Politikern in der Anfangszeit der Weimarer Republik (1919-1922). Bereits vor Amtsantritt beruhte sein politisches Verständnis darauf, die nationalen Staaten Europas als unvermeidlich zusammenhängende Einheit zu erkennen, die nur in friedlicher Koexistenz ihr volles Potential ausschöpfen können.

Gleichzeitig befanden sich bei ihm die wirtschaftlichen Sachverhalte im Zentrum jeglichen politischen Handelns, die stets Vorrang gegenüber politisch-ideologischen Standpunkten genossen. So gelang es dem Sohn des jüdischen Groß-Industriellen und AEG-Gründers Emil Rathenau, obwohl nur wenige Monate im Amt des Außenministers, bedeutende Akzente deutscher Außenpolitik im Hintergrund des Versailler Vertrages zu setzen. Tatsächlich gibt es nicht wenige, die in der Haltung Rathenaus Merkmale sehen, die ihn zum Vorläufer des späteren Außenministers und Friedensnobelpreisträgers Gustav Stresemann charakterisieren.
Bereits im Vorfeld des ersten Weltkriegs demonstrierte Rathenau seine politische Weitsicht und warnte vor den Folgen eines kriegerischen Konfliktes, der sich aufgrund der Bündnissituation und der geographischen Lage maximal ungünstig auf das Deutsche Reich auswirken würde. Deutschland war in den Jahrzehnten nach seiner Nationalstaatsbildung zu einer der führenden Großmächte aufgestiegen. Während der Staat in den Vorkriegsjahren enorm in die militärische Aufrüstung der Marine investierte, wurde jedoch versäumt, auch im wirtschaftlichen Bereich der Rohstoffimporte entsprechend Vorsorge zu treffen. Die Abhängigkeit Deutschlands von Importen war mit der wachsenden Industrie gestiegen. Außerdem erkannte er, dass auch ohne einen Krieg in Zukunft die USA eine globale Führungsposition in ökonomischen Fragen spielen würden. Deshalb trat er für eine europäische Wirtschaftsunion unter deutscher Hegemonialstellung ein, die in Zollunion mit seinen Nachbarländern der amerikanischen Wirtschaft mindestens ebenbürtig wäre. In seiner Schrift „Deutsche Gefahren und neue Ziele“ von 1913 fügt er hinzu:

„Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Hass der Nationen der schärfste Stachel genommen.[…] Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik“.

Diese Vision eines gemeinsames Wirtschaftsraumes mutet schon wie ein Vorläufer der europäischen Staatengemeinschaft von heute an.
Wie uns die Geschichte gezeigt hat, sollte es anders kommen. 1914 bricht der erste Weltkrieg aus und Massen an jungen Männern rennen jubelnd durch die Straßen – Hurra es ist Krieg! Rathenau war keiner von ihnen. Er gehörte auch nicht zu denjenigen, die mit einem schnellen Ende des Krieges rechneten. Seine ökonomische Expertise brachte ihm die Weitsicht, dass Kriege einer Volkswirtschaft schaden, statt wie nicht wenige Zeitgenossen glaubten, zu nutzen. Um der schlecht vorbereiteten wirtschaftlichen Versorgungslage und der britischen Seeblockade entgegenzuwirken, erarbeitete er gleich bei Kriegsbeginn einen Entwurf für eine zentralisierte Organisation der Rohstoffversorgung. In der daraufhin eingerichteten Kriegsrohstoffabteilung (KRA) übernahm Rathenau dann für ein knappes Jahr die Leitung, welche er mit großer Effizienz führte und so den kriegswirtschaftlichen Kollaps abwenden konnte. Bekannterweise sollte letztlich das Deutsche Kaiserreich den Krieg dennoch verlieren.


Das Kriegsende 1918 nahm er, ebenso wie seine Zeitgenossen, mit großem Entsetzen war. Er erkannte auch, dass sich die Nation vor großen politischen Umwälzungen befand. Deutschlands Monarchie war zu Ende, „das Alte und Morsche zusammengebrochen“, wie Scheidemann proklamierte und Deutschland ab 1919 nun erstmalig eine Republik.

Gleichzeitig schloss sich Rathenau der republikfreundlichen Deutschen Demokratischen Partei an (DDP), die als ein Vorläufer der heutigen FDP bezeichnet werden kann. Seinen tatsächlichen politischen Aufstieg sollte Rathenau erst im Feld der internationalen Politik erleben.

1921 wurde er Wiederaufbauminister, in dessen Funktion er unter anderem die Ausführungen der Reparationsleistungen verhandelte und 1922 Außenminister, als der er den berühmten Vertrag von Rapallo mit Sowjetrussland unterzeichnete. Mit der Unterschrift des Versailler Vertrages im Juni 1919 hatte Deutschland zwar eine komplette militärische Besetzung seines Staatsgebietes verhindern können, doch blieben wichtige Fragen bezüglich der von Deutschland an die Siegermächte zu entrichtenden Entschädigungen ungeklärt. Die Reparationsfrage war damit zum bestimmenden Thema der Weimarer Außenpolitik geworden. Die Handlungsmöglichkeiten für die Reichsregierung war in der Anfangszeit nach Versailles aufgrund außenpolitischer Isolation und innenpolitischer Instabilität äußerst begrenzt. Diese Spielräume hingen somit politisch, wie wirtschaftlich vor allem von der Entwicklung der Beziehungen mit den westlichen Siegermächten Frankreich und England ab.


Rathenau bewies in dieser angespannten Position des Landes, eingeschränkt durch den Druck der Westalliierten bzgl. der Reparationsfrage und systemfeindlichen Bewegungen im Inneren, erneut politische Weitsicht. Er erkannte, dass der Versailler Vertrag zwar durchaus äußerst harte Bedingungen und Forderungen an Deutschland stellte, jedoch mit kluger politischer Diplomatie und Entscheidungsfindung zukünftig die vormals innegehabte Großmachtstellung wieder zu erreichen möglich war. Mithilfe der sogenannten „Erfüllungspolitik“ sollte die Bereitschaft des außenpolitisch isolierten Deutschlands zur Einhaltung des Versailler Vertrages demonstriert werden, der als schmerzhafter Schlag die Deutschen aus ihrem nationalistischen Traum eines Siegfriedens geweckt hatte und nun wie ein unerschütterliches politisches Korsett der Schmach wahrgenommen wurde. Gleichzeitig sollten auch die Grenzen der Reparationsforderungen, ja letztlich ihre Unmöglichkeit zur Schau gestellt werden, um auf einem Weg der Verständigung Versailles zu überwinden und Deutschland zurück auf die große Weltbühne zu führen. Auf einem ähnlichen Pfad konnte auch später Gustav Stresemann den außenpolitischen Durchbruch aufweisen – allerdings bei deutlich günstigerer außenpolitischer Konstellation. Diesem realpolitischen Ansatz gegenüber standen Anfeindungen von Rechtsnationalisten und völkischen Bewegungen, die später auch Rathenaus Mord verantworteten und in ihrer nationalistischen Engstirnigkeit die gegebenen politischen Verhältnisse nicht anerkannten. Einseitig wie stur pochten sie auf eine direkte Revision des Vertrages, ohne diplomatisches Entgegenkommen, zur Not auch mit Gewalt.

Fest steht, die Einheit der Nation wäre mit einer solchen Außenpolitik zu Grunde gegangen, denn militärisch war die geschwächte Republik nicht in der Lage einen größeren Militärkonflikt zu gewinnen. Ein Blick auf Rathenaus Verständnis lohnt sich, denn noch heute können wir viel davon lernen – von dessen Nutzen und Grenzen.


Deutschland erreichte dank Rathenaus Wirken Aufschübe im Zahlungsplan und eine Reduzierung der Kohlelieferungen. Die Reparationen konnten mit Sachlieferungen verknüpft werden, um die marode deutsche Wirtschaft anzukurbeln. Kein Vorgehen wie dieses trug besser Rathenaus Handschrift eines wirtschaftsorientierten Politikers, der als Sachverständiger auftreten und unbeeinflusst von innenpolitischen Stimmungen zum Wohle seiner Nation verhandeln sollte. Eine fehlende einheitliche gesamtdeutsche Außenpolitik bis 1923 und die Unnachgiebigkeit der Westalliierten ließ die Erfüllungspolitik jedoch an ihre Grenzen stoßen, wodurch keine erhoffte Lösung der Reparationsproblematik zu Lebzeiten Rathenaus herbeigeführt werden konnte. Gleichwohl sollte sein Verständnis einer liberalen Außenpolitik, die das Ökonomische über das Politische stellte und auf friedliche Koexistenz im multipolaren Staatensystem setzte, dabei keinesfalls auf Machtbildung verzichtend, seinen Teil zu den Grundzügen der zukünftigen deutschen Außenpolitik leisten.


Eine Außenpolitik, die auf Selbstbestimmung, friedliche Koexistenz und Vernunftlösungen setzt; und realpolitische Verhältnisse akzeptiert.

Gerade heutzutage in unserer globalisierten Welt ist dieser Ansatz aktueller denn je. Insbesondere im Hinblick auf Russland und China sollte der Konzeption von Wirtschaft über Politik allerdings Grenzen gesetzt werden. Was Deutschland und zugleich Europa braucht, ist eine optimale Mischung innerhalb seiner Außenpolitik aus werteorientiertem Idealismus und wirtschaftsbasiertem Realismus.