Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Buch der koreanischen Autorin Han Kang hinterlässt den Lesenden betroffen und bedrückt zurück. Warum es sich dennoch lohnt, ein solches Wagnis einzugehen und warum es die Geschichte eines unvergleichbar schönen Martyriums ist, soll Gegenstand dieses Beitrags sein. 


“Die Vegetarierin” erzählt vom Leben einer jungen Frau, die ganz plötzlich aus ihrem monotonen Alltag ausbricht und so zum Sonderling ihres Umfeldes mutiert. Der Handlungsstrang klingt aus westlicher Sicht womöglich recht banal, aber alles beginnt mit dem Schlüsselereignis eines Albtraums und der darauffolgenden Entscheidung, auf tierische Nahrung zu verzichten. Dieser Umstand führt im weiteren Verlauf der Romanerzählung zum Bruch einer Familie und zu drastischen Folgen für die Protagonistin. Die zentrale Figur, jene Vegetarierin mit dem Namen Yong-Hye, wird mir als Leserin in drei Teilen bloß indirekt aus den Perspektiven ihres Mannes, ihres Schwagers und ihrer Schwester eröffnet. So liegt in der Offenlegung ihres tragischen Lebenswandels und ihrer sozialen Entfremdung eine offenkundige Verschlossenheit. Das eigentliche Innenleben dieser Frau kann in der Eigenlogik der Erzählung also stets nur von außen umkreist, aber nie direkt erschlossen werden. Und genau darin liegt die Poesie und die eigentliche Stärke dieses beinahe kafkaesken Werkes verborgen…

Um was es eigentlich geht…

Aus drei Erzählperspektiven schildert der Roman unterschiedliche Formen des gesellschaftlichen, sozialen und kreatürlichen Auseinanderbrechens. Es wirkt beinahe wie ein Schmetterlingseffekt – eine Frau beschließt, kein Fleisch mehr zu konsumieren, ein kleiner Stein gerät ins Rollen und dadurch verändert sich letztlich alles.


Zunächst wäre da der Mann der Protagonistin, der glaubt er habe in seiner Frau als Partnerin den Inbegriff des Unscheinbaren, Unanstößigen gefunden. Als sie sich schlagartig zu verändern beginnt, löst dies in ihm ein entsetzliches Unbehagen aus. Es entspannt sich ein Dilemma: die zuvor stille Begleiterin verhält sich zunehmend sonderbarer und nötigt ihrem Mann plötzlich Rechtfertigungen vor der Außenwelt ab. Als sie durch ihre Ablehnung Fleisch zu essen den Boden der gesellschaftlichen Norm verlässt, beginnt sogleich das eheliche Kartenhaus einzustürzen.


Ein anderer Mann aus ihrem Umfeld sieht Yong-Hye ganz anders. Es ist ihr Schwager, ein Künstler. Seine Arbeit scheint getrieben von einer bestimmten Vision, die sich dem Künstler in einem epiphanischen Momentum als Yong-Hye zu erkennen gibt. Im Rahmen eines künstlerischen Projekts kann er Yong-Hye dazu gewinnen sich am ganzen Körper von ihm mit Blumen bemalen zu lassen. Die Blumen auf dem Körper seiner Muse sind für seine menschliche Leinwand scheinbar ein wahrhaftiger Ausdruck ihres Innenlebens. Nachdem die Muse von ihrem Künstler getrennt wird, gewinnt Yong-Hyes Entwicklung bedrohliche Züge.
Der einstige Vegetarismus radikalisiert sich nun zur völligen Verneinung der Nahrungsaufnahme und der Idee ein Baum zu werden. Alle Versuche von außen sie doch noch zur Einsicht zu bringen scheinen vergebens und so endet alles mit der radikalsten aller Trennungen – womöglich im Tod.

Foto von Jimmy Chan von Pexels

Der zweite Abschnitt der Erzählung erfolgt aus Sicht des Schwagers, einem Künstler. Dieser hegt eine stille Anziehung für Yong-Hye. Es entspannt sich ein Mittelteil der Verführung, in welcher, im Gegensatz zur ersten Handlungssequenz, gerade die Besonderheit der Protagonistin thematisiert wird. Seine Arbeit scheint getrieben von einer bestimmten Vision, die sich dem Künstler in einem epiphanischen Momentum als Yong-Hye zu erkennen gibt. Im Rahmen eines künstlerischen Projekts kann der Schwager Yong-Hye dazu gewinnen sich am ganzen Körper von ihm mit Blumen bemalen zu lassen. Die Blumen auf dem Körper seiner Muse sind für seine menschliche Leinwand ein wahrer Ausdruck ihres Innenlebens. Das führt dazu, dass Yong-Hye sich der Blumen auf ihrem Körper auch nicht mehr entledigen will. Aber auch diese Episode muss tragisch enden: Mit der Trennung des Künstlers von seiner Muse. 

In der letzten der drei Stationen des Romans erzählt Yong-Hyes Schwester, deren Leben nach den bisherigen Vorfällen eine eigene kleine Geschichte des Unglücks erzählt. Yong-Hyes medizinischer Zustand verschlechtert sich zusehends. Anlass dieser erneuten Verschlechterung ist deren Drang sich zu einem Baum zu verwandeln. Der einstige Vegetarismus radikalisiert sich nun zur völligen Verneinung der Nahrungsaufnahme. Die angestrebte Transformation bedroht letztlich Leib und Leben. Alle Versuche sie doch noch zur Einsicht zu bringen scheinen vergebens und so endet alles mit der radikalsten aller Trennungen – womöglich im Tod.

Der Konsum von Leben als Freiheitskonflikt

Ausgelöst von einem Schlüsselerlebnis kann der Verlauf Yong-Hyes durchaus als Aufkommen einer Psychose oder als fatale spirituelle Erweckung und Flucht in das Übersinnliche gedeutet werden. Ich möchte den plötzlichen Lebenswandel jedoch als symbolisch für den Konflikt und die Auseinandersetzung zwischen Norm und Freiheit betrachten.

Im Fokus des Romans steht ein zutiefst sinnliches Element: das Essen, das Einverleiben bzw. dessen Verweigerung. In einem Kulturkreis, in dem der Verzehr von Fleisch gängig und etabliert ist, kann der Traum Yong-Hyes als Beginn eines inneren Konflikts verstanden werden – Fleischkonsum als Freiheitskonflikt verschiedener Lebewesen.

Romana Hostnig, Selbstkannibale (2016)
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Man kann dann zu dem extremen Schluss kommen, dass der Selbstverzehr die einzige Möglichkeit ist die bleibt, wenn man den Fremd-Verzehr aus idealistischen Gründen ablehnt. Auf einer sehr grundlegenden Ebene ist die Freiheit zu Leben demnach ein tragendes Motiv des Romans, das letztlich zum Erlöschen eines Lebens um das Leben anderer willen führen muss. 

Widerstand gegen die Norm als Freiheitsakt

Das Beeindruckende an diesem Roman ist nicht die Darstellung einer Wahnsinnigen oder spirituellen Fanatikerin. Es handelt sich vielmehr um den überzeichneten Ausdruck eines Kampfs um die eigene Freiheit und des damit verbundenen Willens. Gleichzeitig bedeutet das die Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen eigener Entfaltung und dem damit verbundenen Eingriff in Beziehungsgeflechte. Eine Figur, die sich zu Beginn gerade durch ihre Flexibilität und Unterwürfigkeit auszeichnet, enthüllt sich ruckartig als Widerständige.

Dabei stellt sich natürlich die Frage, wogegen der Widerstand gerichtet sein soll, der sich den Lesenden ja nur aus Außenperspektiven zeigt. Die dargestellte Passivität der Vegetarierin ist, so behaupte ich, der Ausdruck einer aktiven Handlung. Verneinung nicht als Reaktion, sondern als Aktion zu denken, wäre dann der Keim aller fatalen Konsequenzen. In ihrem Widerstand gegen eine bestimmte gesellschaftliche Praxis der Bevormundung liegt gleichzeitig das Setzen eines Kontrapunktes. Diese Gegenposition verändert zwangsläufig und unwiederbringlich die familiäre Gemeinschaft.

„Die Vegetarierin“ ist also der Versuch, einem zuvor willenlosen Charakter einen einzigen großen Emanzipationsakt zu widmen. Emanzipation meint hier sowohl das weibliche Herausarbeiten aus patriarchalen Strukturen, aber auch allgemeiner das Herausschälen als eigenständiges, mündiges Subjekt. Dieser Befreiungsschlag zeigt die Autorin nicht romantisiert, sondern in seiner brutalen Selbst- und Fremddestruktivität. 

Der Blick aus der Norm 

Für diesen größten aller Willensakte kann es aus Sicht des gesellschaftlich-normativen Umfeldes keine Sprache geben, weshalb der gesamte Ausdruck auch indirekt, d.h. mittelbar erfolgen muss. Möglicherweise ist die letzte Stufe dieser Transformation des eigenen Seins als sinnliche Versenkung zu verstehen, die nahtlos in den Tod mündet. Das alles gehört zum nicht-Gesagten und bleibt den Lesenden als Gedankenexperiment. Gesagt und gezeigt wird nur das Milieu in dem sich dieser Willensakt vollzieht.

Eine vermeintlich friedliche Entscheidung führt zu einer parasitären Besetzung einer bestehenden Struktur. Diese sozial-gesellschaftliche Struktur ist jedoch genau dasjenige, an der die Protagonistin offenbar leidet. Die Umstände sind Yong-Hyes Freiheitsräuber. Wir Lesenden begleiten die Verwandlung als Teil der normativen Struktur. Wir begleiten die allmähliche Zersetzung dieser funktionierenden Konstellation.

Ein Faszinosum des Buches besteht zweifelsohne in der Darstellung des paradoxen Verhältnisses zwischen Freiheit und Norm und dessen Übersetzung in eine klare Sprache, die sich letztlich am Rande des Unsagbaren entlang hangelt.  

Die gezeigten Facetten ergeben letztlich ein einzigartiges Gemälde einer Figur, die den Untergang wählt und sich damit gewaltsam aus ihrer anfänglichen Unmündigkeit herauslöst. In einem aktiven Widerstand gegen das Bestehende entscheidet die Protagonistin sich für ihre Idee von Freiheit. Wird das als Sieg der Vegetarierin glorifiziert? Natürlich nicht. Die zerstörerische Wirkung auf eine ganze Reihe von Beteiligten zeigt sich definitiv. Dennoch thematisiert der Roman den Konflikt zwischen Norm und Freiheit in einer kunstvollen, poetischen Weise, die das Leid durch die Schönheit der Erzählung ertragbar werden lässt. “Die Vegetarierin” ist daher ein schönes Martyrium radikaler Selbstbestimmung, das sich auf dem unerbittlichen Kampfplatz zwischen Leben und Tod ereignet.